Institut für Palaeoanatomie und Geschichte der Tiermedizin
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Milet

Die seit Mitte der 1980er Jahre unter der Leitung von Prof. Dr. V. von Graeve (Ruhr-Universität Bochum) und Prof. Dr. W.-D. Niemeier (DAI Athen) durchgeführten archäologischen Ausgrabungen in Milet (Westtürkei), einem der bedeutendsten Handelszentren Kleinasiens, förderten große Mengen Tierreste aus Schichten des 4. bis 1. vorchristlichen Jahrtausends zutage, die einzigartige Einblicke in die Lebensgewohnheiten, Religionsgeschichte und Handelsbeziehungen seiner einstigen Bewohner sowie ihre Umwelt gewähren. Bislang konnten 150.000 Tierreste aus archaischen und 35.000 aus kupferzeitlichen bis protogeometrischen Schichten vor Ort analysiert werden. Ausgehend von der gut erforschten Tierwelt des archaischen Milets, lassen die Archäofaunen aus den früheren Siedlungsphasen wichtige Besonderheiten erkennen, wie z.B. die Verschiebung in der wirtschaftlichen Bedeutung von Schaf und Ziege zugunsten der zweiten Art in den minoischen Kleinviehbeständen, ein bislang unbekanntes Phänomen für das bronzezeitliche westliche Kleinasien, was nicht zuletzt auf die lückenhaften archäozoologischen Kenntnisse für diese Region und Zeit zurückzuführen ist. Mit der geplanten Analyse der restlichen 70.000 Funde aus den prä-archaischen Schichten könnte die Bearbeitung der Tierreste abgeschlossen und die Publikation der Ergebnisse in die Wege geleitet werden.

Stand der Forschung

Dem frühgeschichtlichen Milet, einem der bedeutendsten Handelszentren Kleinasiens, wird von Seiten der Klassischen Archäologie seit Ende des 19. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit gewidmet. Jahrzehntelang stand dabei die Erforschung der antiken Ruinen und ihrer baugeschichtlichen Entwicklung im Vordergrund. Anfang des 20. Jahrhunderts galt das besondere Interesse der Ausgräber den Resten aus der archaischen Epoche, als die Stadt nach antiker Überlieferung die wirtschaftlich und politisch bedeutendste an der kleinasiatischen Westküste war. Da die archaischen Schichten im Zentrum wegen der starken Verschüttung und des hohen Grundwasserspiegels nur unter größten Schwierigkeiten zu erforschen waren, konzentrierte man sich bereits damals auf das höher gelegene Gelände im Süden des Stadtgebietes am sog. Kalabaktepe. Hier wurden die Arbeiten seit den 80er Jahren im Rahmen eines von der DFG finanzierten Projektes zur Erforschung des archaischen Milet unter der Leitung von Prof. Dr. Volkmar von Graeve (Ruhr-Universität Bochum) wieder aufgenommen. Die Forschungen haben seither wichtige Erkenntnisse zur Architektur der Häuser, zu Handwerksbetrieben, aber auch zu den Verteidigungsanlagen und Sakralbauten geliefert (z.B. von Graeve et al. 1995, 1997; Senff 2000). Westlich vom Kalabaktepe auf dem sog. Olivenhügel (Zeytintepe) befindet sich das Heiligtum der Aphrodite (Senff 2003). Archäologisch besticht es durch den Reichtum an Kleinfunden, z.B. Terrakotten, Schmuckgegenstände (Ohr- und Fingerringe sowie Armreifen aus Bronze; Anhänger aus Bein, Blei und Silber; Perlen unterschiedlichster Größe und Form aus den verschiedensten Materialien) oder Tridacna-Muscheln, verziert mit geritzten Darstellungen, deren Stil auf eine Herstellung im syrisch-phoenikischen Raum schließen lässt. Diese Funde bezeugen die überregionalen Beziehungen dieser einstigen Handelsmetropole.

Nachdem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Prunkbauten der hellenistisch-römischen Zeit und auch die byzantinischen und islamischen Ruinen weitgehend erforscht waren, konzentrierten sich die Arbeiten für einige Zeit auf das Gebiet um den Athenatempel, wo unter den archaischen Gebäuden mykenische Verteidigungsanlagen und Siedlungsreste zu Tage kamen. Bei der Wiederaufnahme dieser Arbeiten Anfang der 90er Jahre unter der Leitung von Prof. Dr. W.-D. Niemeier wurden in einem Areal südwestlich des Athenatempels Schichten ausgegraben, die die Besiedlung der milesischen Halbinsel bis in das Chalkolithikum zurückverfolgen lassen (Niemeier 2005; s. Anlage 1). Aus wissenschaftlicher Sicht besonders hervorzuheben ist die mittelbronzezeitliche Bewohnung, die stark von der minoischen Kultur geprägt ist. Die Tatsache, dass 98% der Keramik, vor allem die gesamte bisher ausgegrabene Küchenware, einen minoischen Charakter trägt, spricht sogar für tatsächliche minoische Präsenz, ebenso wie die Indizien für minoischen Kult und die praktische Anwendung von Linear A. Welche Art diese minoische Präsenz war, ist nicht ganz geklärt, möglicherweise war Milet eine kretische Handelsstation oder sogar eine Kolonie (Niemeier & Niemeier 1997).

Die in den letzten beiden Jahrzehnten am Kalabaktepe, Zeytintepe und Athenatempel durchgeführten Ausgrabungen zielten jedoch nicht nur darauf, die Kenntnisse der Bau- und Siedlungsgeschichte Milets zu vertiefen, sondern auch vermehrt kulturhistorische und religionsgeschichtliche sowie wirtschaftsarchäologische Aspekte der einst politisch bedeutendsten Stadt an der kleinasiatischen Westküste aufzudecken. Im Zusammenhang mit diesen Fragestellungen wurden erstmals in der langen Forschungsgeschichte Milets die Überreste von Pflanzen und Tieren gezielt aufgesammelt und damit die Möglichkeit eröffnet, Konkrete Aussagen über die Ernährungs- und Opfergewohnheiten, die Tierhaltung und -zucht, den (Fern)Handel mit Produkten tierischer Herkunft sowie über die damalige Landschaft und Umwelt machen zu können.